Monday, January 19, 2009

Die Fehlgeburten der Anderen

Das best gehütete Geheimnis der Fehlgeburt ist, wie viele von ihr getroffen werden. Erst tun sie alle so, als wenn es nichts Einfacheres und Natürlicheres gäbe, als neun Monate Schwangerschaft leichtfüßig zu schultern. Aber kaum erzählt man von seinem schweren Schicksal, um es ein bisschen leichter zu ertragen, schon kommen sie alle aus ihren Löchern gekrochen.

„Zwischen 50 und 70 Prozent aller Schwangerschaften“, behauptete meine Gynäkologin auf einmal und schob mir verschwindend kleine Pillen gegen die Trauer zu. "Dieses Kind müssen Sie jetzt beerdigen", befahl sie. Vorher hatte sie noch scheinheilig etwas davon erzählt, dass ich mein Kind schon bekommen würde, wenn der liebe Gott es nur wolle. Das war, als ich sie – Statistikerin, die ich nun einmal bin - bei der Entdeckung der Schwangerschaft ängstlich danach gefragt hatte, wie hoch die Gefahr einer Fehlgeburt in diesen viel beschworenen ersten 12 Wochen denn nun sei, vor deren Ablauf nie jemand von seiner Schwangerschaft erzählt.

50 bis 70 Prozent ist stark übertrieben, jedenfalls wenn man etwas darüber wissen will, mit welcher Wahrscheinlichkeit man eine Leidensgenossin trifft. Die Zahl schließt unentdeckte Befruchtungen mit ein, die etwa zum Zeitpunkt der Periode abgehen. In solchen Fällen erfährt die werdende Mutter nie, was ihr da entgangen ist. Folglich auch keine Trauer.

10 bis 30 Prozent trifft es eher, wenn wir von Fehlgeburten sprechen, die die Frauen bewusst erleben. Aber die sind überall.

Oma Feechen hatte eine Fehlgeburt, hieß es zu Hause. Man wollte mich damit trösten. Die hat sich allerdings gefreut. Es wäre das sechste Kind gewesen. Tante Elsas zweites war eine Fehlgeburt. Trotzdem hat sie drei Kinder. Und Rosi aus der Mittwochsgymnastikrunde war sehr betroffen und ließ mich grüßen. Sie hat sieben Jahre auf ihr zweites Kind warten müssen, zwei Fehlgeburten. Sie wurde immer nervöser, die Zeit schiene einem schließlich davon zu laufen. Wem sagt sie das...

Auch aus meinem Freundeskreis gab es ähnliche Rückmeldungen „Das haben mindestens vier, fünf meiner Freundinnen auch durchgemacht“, war einer der häufigsten Auskünfte, die ich bekam. Und dann noch zum Trost: „Heute haben sie alle wunderschöne Kinder.“

Frauen mit der Kombination „Fehlgeburt, Kind“ kenne ich zwar durchaus, aber ich kenne auch welche mit „Fehlgeburt, Eileiterschwangerschaft“. Im Grunde ist man vor keinem Schicksal ganz sicher, wenn man eine Fehlgeburt hinter sich hat. Mein Joggingpartner berichtete mir von „Fehlgeburt, Fehlgeburt, Fehlgeburt, jetzt sehr stolze Mutter“. Das würde mich dann allerdings sicher in die Menopause führen, bei dem Tempo, mit dem ich schwanger werde. Vorher wahrscheinlich noch in die Nervenheilanstalt.

Noch schlimmer wird es, wenn man mit anderen seine Erfahrungen mit der Fortpflanzungsmedizin austauscht.

Als ich Jessica und Sabine das erste Mal wieder traf, war Jessica im vierten Monat schwanger. Ich fühlte mich sehr davon ermutigt, jemanden zu sehen, der so glücklich und reibungslos ein Kind austrug. Über die Phase, dass ich schwangere Frauen und kleine Kinder nicht sehen mochte, war ich schon wieder hinweg. Doch als ich von meinem Unglück erzählte, packte Jessica aus: vier Jahre lang vergebliches Versuchen, zwei erfolglose Invitrofertilisationen und immer häufiger ein Leben am Rande des Nervenzusammenbruchs. Am Ende empfand sie sogar die Geburtsanzeigen als Provokation, die ihre besten Freundinnen ihr schickten. Sie heiratete ihren Freund, obwohl die beiden vom Heiraten nichts hielten, denn sie wollten wenigstens die Möglichkeit haben, zu adoptieren.

„Und dann bin ich einfach mit diesem Regelcomputer schwanger geworden“, erzählte sie, immer noch ganz verblüfft. Der vierjährige Fortpflanzungsmedizin-Marathon, bei dem Jessica alle nur erdenklichen Methoden probiert und alle Hilfsmittel eingesetzt hatte, wie abwegig sie auch immer schienen, hatte am Ende dazu geführt, dass sie den Beitrag des eigenen Mannes zu ihrer Schwangerschaft kaum noch zu würdigen wusste. Jedenfalls sah sie uns mit einem etwas entrückten Lächeln an, als wir sanft darauf hinwiesen, dass sie mit Moritz schwanger geworden war, und nicht mit dem Computer.

Sabine hingegen war noch auf der Suche nach einem Mann und ganz geschafft von dem, was sie dabei mitmachen musste. Sie versuchte gerade, über einen schwulen Norweger hinwegzukommen, in den sie sich in ihrer Verbohrtheit verliebt hatte, obwohl ihr jeder, aber auch jeder in der Stadt Brief und Siegel auf seine Homosexualität zu geben bereit war.

„Jahaaa“, sagten wir ihr und fletschten bösartig unsere Zähne. „Du glaubst, Du hast es geschafft, wenn Du einen Mann gefunden hast. Warte nur, bis du da angekommen bist, dann geht es erst richtig los“. Bis sich Sabine panisch im Zimmer umblickte und etwas von „ich steig aus“ murmelte.

Der Regelcomputer wertet übrigens Teststreifen mit Urin aus, um den Zeitpunkt des Eisprungs zu ermitteln. Manche Frauen, wie meine Freundin Sonja verhüten damit. Sie ist auf die Art und Weise zwei Mal mit zwei unterschiedlichen Männern ungewollt schwanger geworden. Jetzt erwartet sie ihr erstes Kind mit einem Mann, der ihretwegen Frau und Kind verließ. Leider kann er sich immer noch nicht entscheiden, ob das ganz richtig war. Und Sonja weiss deswegen nicht so recht, ob sie sich über die ganze Situation freuen soll.

Auf dem Gebiet der Fortpflanzung gibt es weder Vernunft noch Gerechtigkeit.

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