Monday, January 12, 2009

Fehlgeburt

„Haben Sie Schmerzen“, fragt mich die Frau im gegenüberliegenden Bett. Ich kann einfach nicht aufhören zu weinen.

„Nein“, antworte ich. „Ich bin nur traurig.“

Das sieht sie ein. „Vielleicht sind Sie ja nächstes Jahr schon zu dritt“, versucht sie mich zu trösten. Dann erzählt sie mir eine abenteuerliche Geschichte, wie sie bei ihrem ersten Kind sechs Monate lang nicht bemerkt hat, dass sie schwanger war.

Schwer vorstellbar, dass ich mich in der Situation wiederfinden könnte. Seit wir ein Kind planen, habe ich peinlichst genau meinen Zyklus beobachtet, war in heller Aufregung, wenn zu kurz war, vermutete zu hohes Alter, verklebte Eileiter oder Hormonstörungen und versuchte ständig meine Gynäkologin zu überreden, eingehende Untersuchungen einzuleiten. Sie weigerte sich lange standhaft, meinte es sei viel zu früh, aber als ich immer wieder aufgelöst vor ihr stand, gab sie irgendwann doch meinen Drängen nach.

Kaum steckte ich meinen Kopf in eine Sterilitätsklinik, wo mich eine sympathische deutsch-türkische Gynäkologin nach meinen Unternehmungen befragte, um schwanger zu werden, unternahm ich mit meinem Freund eine Reise. Und wurde schwanger.

„Ich freue mich“, rief meine Gynäkologin und strahlte mich an, als sie mir das Ergebnis präsentierte. Sie ist eine kleine, gut gelaunte, blonde sympathische Frau, die eine große Gelassenheit ausstrahlt. Ohne sie hätte ich den Druck nie ausgehalten, den ich mir selbst gemacht habe.

Nur sieben Tage später fand ich Blut, als ich bei einer Konferenz in Brüssel während einer Pause zur Toilette ging. Die Konferenz ging ohne mich weiter. Ich saß eine halbe Stunde später in einem abschrabbelten Wartezimmer einer belgischen Notaufnahme und kämpfte gegen Weinkrämpfe. Ziemlich lange saß ich da. Zwischendurch rief Cordula an, um mir mitzuteilen, dass sie morgen in die Stadt käme und mich gerne sehen würde. Unglücklicherweise war ich ans Telefon gegangen, weil ich dachte, es könnte mein Freund sein. Ich versprach ihr, sie zurück zu rufen.

Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, steckte ein freundlich aussehender, dunkelhäutiger Arzt seinen Kopf aus dem Behandlungszimmer und rief meinen Namen auf. Einen Gynäkologenstuhl hatte er nicht zu bieten, aber er wusste sich zu helfen. Ich solle doch einfach mal meine geballten Fäuste unter das Gesäß legen. Nachdem ich mir monatelang die Zähne an einer Studie zu den Kosten unseres Gesundheitssystems ausgebissen hatte, boten mir die Belgier hier einmal ganz unkompliziert ein paar praktische Anregungen, wie man sie zu reduzieren könnte.

Ich drehte den Kopf zum Fenster. Den Bildschirm für den Ultraschall wollte ich gar nicht sehen.
Dem belgischen Arzt gefiel das nicht:“Regardez - votre bébé“, forderte er mich begeistert auf. Er fand, alles sei in bester Ordnung. Und die Blutungen? 60% aller Schwangerschaften bluten, erklärte er mir. Ich könnte ruhig nach Hause fliegen, auf dem Weg nach Deutschland gäbe es schließlich nie viele Turbulenzen. Sogar das Wetter konnte der vorhersagen.

So richtig beruhigt war ich nicht. Zwischendurch überlegte ich mir zwar, ob ich nicht doch endlich mal alle meine Panik über Bord werfen und mit Clara ins Gogol-Bordello-Konzert gehen sollte wie geplant. Aber am Ende entschlossen wie uns doch vorsichtshalber zu einem zweiten Besuch in einer Notaufnahme, diesmal in einer deutschen. Viel sauberer als die belgische, viel weniger improvisiert, aber auch mit viel traurigeren Nachrichten. Einen Fötus könnte sie sehen, sagte die junge Ärztin, aber kein Herz, das schlägt.

Sie bot mir an die Nacht zu bleiben, um in zwei Tagen noch einmal nachzusehen. Ein bisschen Hoffnung gäbe es, dass es noch anfinge zu schlagen. Ich zog es vor, zu Hause auf dem Sofa weiter zu bluten.

Am nächsten Tag rief ich Cordula an, um ihr die Situation zu erklären und warum ich sie nicht sehen könnte. Sie hielt das für den passenden Moment, in ein längeres Lamento darüber zu verfallen, welche Anstrengung und welche Freiheitseinschränkung ihre dreijährige Tochter für sie bedeutete. Das war das erste Mal seit 24 Stunden, das ich Lust bekam, laut zu lachen. Erst nachdem ich aufgelegt hatte, fiel mir ein, dass ich ihr hätte anbieten können, ihr das Kind abzunehmen. Cordula war schon immer eine der weniger zart fühlenden unter meinen Freundinnen. Ihre Gratulation zu meiner Promotion bestand damals darin mir zu erzählen, ihre Mutter habe gesagt, Frauen wie ich hätten es schwer. Will sagen, einen Mann zu finden, nahm ich an, mit dem Kainsmal der Promotion. Irgendwie hatte ich diese Hürde allen Widrigkeiten zum Trotz doch genommen. Aber so wie es aussah, war ich beim großen Kampf um das Baby zumindest in der ersten Runde vollkommen k.o. zu Boden gegangen.

Am Abend wurden die Blutungen so viel stärker, dass ich die nächste Nacht doch im Krankenhaus verbrachte.

Jetzt habe ich eine durchwachte Nacht hinter mir und eine Gebärmutterausschabung.
Das blonde, langhaarige Mädchen, das neben mir liegt, versucht mich zu trösten. Beim ersten Mal hatte sie Jahre gebraucht, um schwanger zu werden. Sie war mit 19 Jahren aus Mazedonien hierher gekommen, um einen Landsmann zu heiraten. Nach vier Jahren Heimweh, Einsamkeit und Warten bekam sie eine Fehlgeburt. Jetzt ist sie im Krankenhaus, weil sie künstlich ernährt werden muss. Dieses Mal keine Fehlgeburt, dafür ein schwerer Fall von Morgenübelkeit, die sich über den ganzen Tag erstreckt. Sie hasst ihren Mann, der ist an allem Schuld, sagt sie. Es gibt doch nichts Schöneres im Leben einer Frau als den Weg zu einem Kind...

“Beim ersten Mal ist schwer, schwanger zu werden, beim zweiten Mal ganz einfach“, tröstet sie mich. Sie erzählt mir von warmen Bädern und mazedonischen Wunderheilerinnen, die ihren Bauch massiert haben, alles sehr viel versprechende Methoden. Irgendwie tröstet es mich, dass auch jüngere Frauen Schwierigkeiten haben können, Kinder zu bekommen. Obwohl ich der Frau doch sehr bald eine angenehme Mahlzeit wünschen würde, die nicht sofort ihr Gesicht grün verfärbt und auf Knien vor der Toilettenschüssel endet.

„Scheiße heiraten“, urteilt sie irgendwann im Verlauf des Vormittags. Sie hätte doch besser die Schule zu Ende gemacht und eine Ausbildung, meint sie. Ich versuche eifrig, sie aufzumuntern und zitiere etliche Beispiele aus meinem Bekanntenkreis, die mit über dreißig ein Studium aufgenommen und erfolgreich abgeschlossen haben. Und doch ist das alles irgendwie absurd. Die einen meinen, sie hätten sich zu spät ernsthaft auf Freiersfüße begeben, die anderen zu früh. Wie macht man es denn nun eigentlich richtig?

Als ich endlich nach Hause darf, gehen wir im Volkspark spazieren und essen ein Stück Kuchen. Es dauert fast vier Wochen, bis ich morgens aufwache, ohne sofort zu weinen. Ich kann nicht verstehen, dass mein Freund nicht genauso traurig ist wie ich. Er ist traurig, sagt er, er drückt es nur anders aus. Ich weiß, dass er traurig ist. Ich sehe ihn immer noch stumm auf seinem Schemel in der Ecke des Untersuchungszimmers sitzen als die Gynäkologin vergeblich nach einem pochenden Herzen sucht. Und ich höre ihn immer noch nachts um zwei im Krankenzimmer in mein Ohr hauchen, dass er es nächstes Mal besser machen will, als wir die Nachricht von dem Blutwert bekommen, der eindeutig die Fehlgeburt belegt. Aber es fällt ihm so leicht, wieder optimistisch in die Zukunft zu blicken. Mir nicht, Irgendwann merke ich, eine unterschiedliche Art zu trauern, kann eine Beziehung in so einer Situation sehr belasten. Weil er sich nicht an meine Art zu trauern anpassen kann, bleibt mir am Ende nichts anderes übrig, als mich an seine anzupassen.

Der Frühling beginnt, die Sonne lacht, die Blumen blühen und die Vöglein singen. Mein Leben geht weiter. Irgendwann kann ich auch wieder an Kinderwagen und an schwangeren Frauen vorbeigehen, ohne die leicht füßige Art dieser Menschen, sich fortzupflanzen, als Provokation zu empfinden. Und ich bin wieder mitten drin im Babyrennen.

Schade nur, dass ich mir die Adresse von der mazedonischen Masseurin nicht habe geben lassen. Richtig einfach ist es bei mir auch beim zweiten Mal nicht. Vielleicht muss ich dann ja wenigstens nicht künstlich ernährt werden, wenn es doch mal klappt.

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